Lena steht vor dem Community Center.

„Ich habe Glück, denn ich kann zumindest die lautesten und räumlich nächsten Explosionen hören. Das könnte uns eines Tages das Leben retten“, sagt Lena, 40. Sie und ihre Familie sind im Krieg in der Ukraine besonderem Maße bedroht, denn alle Familienmitglieder sind schwerhörig, ihr Vater sogar taub.

Wer in der Ukraine eine Explosion hört, rennt entweder weg, versteckt sich oder wirft sich auf den Boden, je nachdem, wie nah sie ist. Jedes Kind, jedes Eltern- und Großelternteil weiß, wie es reagieren muss, um das eigene Leben zu retten. Aber was ist mit denen, die die Explosionen nicht hören können? „Diejenigen, die ein wenig hören, die Vibrationen spüren oder den Rauch sehen können, schicken ein Bomben-Emoji in unseren Gruppenchat oder einfach nur 'Bumm', damit alle wissen, dass sie sich sofort in Sicherheit bringen müssen“, erklärt Lena, die in Pokrovsk und den umliegenden Siedlungen in der Ostukraine einen Verein für rund 60 Menschen mit Hörbehinderung leitet.

„Die leisen und weit entfernten Explosionen sind in der Regel ein Signal, dass weitere Raketen kommen. Es gibt nie nur eine, und sie kommen in der Regel näher und näher. Aber die weit entfernten hören wir nicht. Deshalb helfen uns unsere Nachbarn und sagen uns, wann wir uns verstecken müssen“, erzählt Lena. Ihre Freundin Sviatlana, 70, begleitet Lena als moralische Unterstützung, da sie Schwierigkeiten hat, über den Krieg zu sprechen, ohne tiefen emotionalen Schmerz zu empfinden. Sviatlana hat ein Hörgerät. Aber nachts muss sie es herausnehmen. „Manche sagen mir, dass sie neidisch sind, dass ich nicht höre, weil ich dann auch nicht die Angst spüre, die sie haben. Aber ich habe noch mehr Angst, weil ich mich nicht so schnell verstecken kann wie sie“, sagt Sviatlana. Einige Mitglieder des Vereins haben Hunde, die ihre Besitzer alarmieren, wenn es Explosionen gibt. „Sie drehen völlig durch, rennen im Kreis herum und bellen wie wild. Also orientieren wir uns an ihnen und gehen in Deckung“, berichtet Lena.

Sviatlana im Community Center.

Fast jede Nacht Explosionen

Die Luftangriffe haben seit Beginn des neuen Jahres zugenommen. „Es ist sehr beängstigend, wir gehen nicht mehr vor zwei Uhr nachts schlafen, weil die Raketen meistens vorher kommen. Aber nicht immer. Vor zwei Nächten kamen die Raketen um drei Uhr nachts. Wir schliefen noch, als plötzlich das ganze Bett vibrierte. Wir sind dann alle in den Korridor gerannt, um von den Fenstern wegzukommen“, erinnert sich Lena.

Jetzt erleben sie fast jede Nacht Explosionen. „Wir hassen die Nächte wirklich“, sagt Lena und unterbricht ihren Satz, weil es ihr emotional zu schwerfällt, fortzufahren. Sviatlana nimmt ihre Hand und spricht für sie weiter: „Wir haben solche Angst um unsere Kinder und können nicht weg, weil es zu teuer ist, da wir nur eine kleine Rente haben.“ Sviatlanas Rente beträgt etwa 60 Euro im Monat, die Miete im relativ sicheren Westen der Ukraine liegt bei 450 Euro im Monat für eine Einzimmerwohnung.

Viele Hörgeschädigte haben mit Beginn der Eskalation des Krieges vor zwei Jahren ihren Arbeitsplatz verloren. Auch Lena. Sie war Gärtnerin auf einem Bauernhof und kümmerte sich um die Blumen. „Pokrovsk war früher voller Blumen. Rosa, weiße und rote Rosen“, sagt Lena. In Kriegszeiten einen Job zu finden, ist für alle schwierig. Viele Unternehmen wurden zerstört oder stellten ihre Arbeit ein. In den ersten Monaten des Krieges sind in der Ukraine fast 5 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen. „Ich habe versucht, eine neue Arbeit zu finden. Meine Tochter Sofya hat mich gebeten, zu Hause zu bleiben, weil sie solche Angst hat, wenn ich das Haus verlasse“, sagt Lena. Als jemand, der die ankommenden Raketen nicht hören kann, ist es für Lena auch ein höherer Risikofaktor, das Haus zu verlassen. „Man muss sich nach einer Explosion sofort auf den Boden werfen, um sich zu retten, aber was sollen wir tun, wenn wir sie nicht kommen hören?“

Lena sitzt auf einer Bank im Community Center

Es fehlt an allem

Ohne ein festes Einkommen und nur mit der kleinen Rente ihrer Eltern versucht Lena, alles zu verkaufen, was sie nicht braucht. „Alles, was wir nicht mitnehmen können, wenn wir plötzlich fliehen müssen, verkaufe ich, um zu überleben. Zum Beispiel den Fernseher oder die Waschmaschine.“ Das letzte, was sie verkauft hat, waren die Laufschuhe ihrer Tochter. „Sie hat früher in der Schule Leichtathletik gemacht, aber das ist jetzt vorbei. Im Krieg braucht sie die Schuhe nicht.“ Lena verkaufte sie für rund 8,50 Euro und kaufte von dem Geld Butter, frisches Gebäck und einen Hotdog für Sofya. „Wir müssen an allem sparen, denn es ist nicht genug da. Meine Eltern bauen im Garten ein paar Kartoffeln und Tomaten an, die wir essen können“, sagt Lena, und Sviatlana fügt hinzu: „Deshalb sind wir für jede humanitäre Hilfe dankbar. Wir haben ein Hygieneset erhalten, das normalerweise sehr teuer ist, und das war sehr hilfreich.“

Sviatlana sitzt auf einer Bank im Community Center.

Die Hygienesets wurden von einem CARE-Partner verteilt und enthielten einige Handtücher, Toilettenpapier, Zahnpasta, Duschgel, Seife, Feuchttücher, Schwämme und Waschmittel. „Wir haben versucht, so viel wie möglich zu sparen, damit wir länger etwas davon haben. Wir müssen auch Wasser sparen, denn das System ist überlastet, und wir haben nur für drei Tage in der Woche Wasser. Deshalb haben wir in unserer Wohnung überall volle Eimer, Töpfe und Flaschen mit Wasser.“ Sviatlana nimmt wieder Lenas Hand und sagt: „Wir wünschen uns einfach, dass die besonderen Umstände gehörloser Menschen in der aktuellen Situation mehr Berücksichtung erfahren. Es ist ungemein schwer für uns, zu überleben.“

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